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Widerspenstiges Jahrhundert – Honoré Daumiers Karikaturen im Frankfurter Städel

Widerspenstiges Jahrhundert – Honoré Daumiers Karikaturen im Frankfurter Städel

So haben sich die klugen Männer des 18. Jahrhunderts das folgende – das 19. Jahrhundert – nicht vorgestellt. Nach dem relativen Liberalismus Ludwigs XV (Frankreich lässt sich vor allem ökonomisch stark von Holland und England inspirieren) gelingt die Reform der Finanzen und der staatlichen Struktur nicht. Die Französische Revolution, die mit der Erstürmung der Bastille beginnt und dem Tod des Königs (und der Königin) endet, bedeuten eine große Zäsur in der Gesellschaft, die in die Machtübernahme durch Napoleon Bonaparte mündet. Die Künste erfahren eine beneidenswerte Entwicklung. Demgegenüber wird das 19. Jahrhundert eines der bahnbrechenden technischen Entwicklung. Es bringt einen enormen Aufschwung in den Künsten (Impressionismus, Literatur, Musik) und zugleich der großen Unterschiede zwischen der Hauptstadt Paris und der „Provinz“. Seit Beginn des 19. Jahrhunderts ist klar, dass der einzige Weg zum Erfolg über die Metropole führt.

Das wusste auch der 1808 in Marseille geborene Honoré Daumier, dessen Vater sich als Dichter verstand (und eine beschauliche Künstlerkarriere dann in Paris mehr schlecht als recht fortlebte.). Die 10 Kinder dieses verarmten Glasers und Rahmenmachers konnten kaum von den Einkünften des Vaters leben. Dieser war jedoch überzeugt, dass seine Gedichte erst in Paris auf fruchtbaren Boden fallen würden. Also zog er 1815 zunächst allein hin. Eine kleine Anstellung 1816 lässt ihn auf bessere Zeiten hoffen. Als dann die Familie 1817 nach Paris umzieht und der Vertrag des Vaters aufgelöst wird, sieht sich die Familie gezwungen, laufend umzuziehen, um den Gläubigern zu entkommen. Mit 11 Jahren muss Honoré seine Schulzeit beenden. Er findet eine schlecht bezahlte Stelle als Laufbursche bei einem Gerichtsdiener, eine bessere dann bei einem Buchhändler: Hier trifft der junge Mann den Maler Lenoir, der ihn fortan „formen“ soll. Lenoir ist ein Vertreter der französischen klassizistischen Schule, daher schickt er den jungen Mann in den benachbarten Louvre, um die Klassiker zu kopieren.

Honoré Daumier (1808–1879)
Nadar élevant la photographie à la hauteur de l’art (Nadar elevates photography to the level of art)
1862
Chalk lithograph, very little scraped, sur chine
445 × 310 mm
© Private Collection

Es ist nicht ausgeschlossen, dass Honoré hier peu à peu den Weg zur Karikatur fand, da er das ständige Kopieren langweilig fand. 1825 tritt er in die Lehre des Pariser Verlegers und Lithographen Belliar ein. Hier erlernt er die Grundlagen der Bearbeitung von Lithosteinen erlernt. Darüber hinweg kann er in der „Académie suisse“ nach Modellen zeichnen. Hier liegen auch die Fundamente seines 40-jährigen künstlerischen Werkes, das an die 4000 Lithografien, 1000 Holzschnitte, 540 Gemälde (Öl auf Leinwand), 100 (kleinere) Skulpturen und etwa 1900 Zeichnungen umfassen wird. Eine schier unglaubliche künstlerische Aktivität, die erst in fortgeschrittenem Alter nachlässt, da sein Augenlicht immer schwächer wird.

Das Städel Museum hat zum 125. Jubiläum des Städelschen Museums-Vereins eine großartige Schenkung vom Frankfurter Mäzen Hans-Jürgen Hellwig erhalten: seine Daumier-Sammlung von etwa 4200 Lithografien und Holzstichen, 19 Zeichnungen und 36 Plastiken ist die größte außerhalb Frankreichs. Rund 120 Exponate sind nun ausgestellt. Einige der Lithografien Daumiers werden in Kürze ihr 200jähriges Jubiläum feiern, etwa die bekannte Karikatur des Pariser Fotografen Nadar. Dessen erster Aufstieg mit seinem Ballon „Le Géant“ am 4. Oktober 1863 vom Champ de Mars in Paris wurde von 200.000 Personen verfolgt. Sein zweiter Aufstieg endete mit einem Absturz bei Nienburg und schweren Verletzungen seiner Frau (1863). Doch Felix Tournachon, der sich lieber Nadar nannte, spielte eine kapitale Rolle in der Entwicklung der Fotografie – als einer der ersten, der im Stande war, bei künstlichem Licht Fotografien zu machen und etwa die Unterwelt – auch die Katakomben von Paris – überraschend gut ablichtete.

In der politischen Auseinandersetzung würde man Daumier heute als einen Linken bezeichnen. Er beobachtete genau (und er war im literarischen Paris nicht allein), was sich an der politischen Front abspielte, genauso wie er das alltägliche Leben unter die Lupe nahm. Ein kleines Baby, in seinem „Schlafsack“ auf einer Wand befestigt, sieht, dass sich seine Amme draußen bei einem Tanz tüchtig amüsiert. Natürlich schreit es, was das Zeug hält, was Daumier nicht davon abhält, dazu einen bissigen Kommentar zu verfassen: „Die erste Lektion der Amme Jacotet an seinen Schüler, während sie sich dem Tanz hingibt, ihm vor Augen zu führen, wie problematisch ist es – im Laufe des Lebens – alle sozialen Aufgaben einwandfrei zu lösen, besonders wenn der Mensch (wie der Kleine) in der Luft hängt.“

Honoré Daumier (1808–1879)
Halte!!! (Halt!!!)
1867
Kreidelithografie sur blanc
373 x 273 mm
© Privatsammlung

Genauso bissig war er bei seinen Kommentaren der Revolutionen und Konterrevolutionen in Frankreich. Daumier beobachtete scharf, was sich politisch auf dem europäischen Boden abspielte – das 19. Jahrhundert war in Frankreich ein Jahrhundert der wirtschaftlichen Nöte, Hungerkrisen, politischen Konflikten und Epidemien. Daumiers Neugier führte dazu, dass er auch die neuesten technischen Entwicklungen oft selbst ausprobierte, genauso wie der Umbau der Metropole Paris zu einem den aufregendsten Städten auf der ganzen Welt (auch wenn er nicht mit allen Modernisierungen des Pariser Baumeisters, Baron Hausmann, einverstanden war) aus der Nähe zu verfolgen und dort zu kritisieren, wo er es für nötig hielt. Die verschiedenen graphischen Zyklen (Tiere, Sport, Musik, Theater, Karneval, Masken, Kostüme, Bücher, Zeitungen etc.), die in den Zeitungen La Caricature und Le Charivari erschienen sind, belegen es.

Honoré Daumier (1808–1879)
Deux heures du matin, sortie du Théâtre historique (Zwei Uhr morgens, am Ausgang
des historischen Theaters), 1847
Kreidelithografie, geschabt, sur blanc
337 x 255 mm
© Privatsammlung

Im Städel hat man aus der Fülle der Arbeiten 120 Werke ausgewählt, die meisten sind prototypisch für Daumiers soziales Engagement. Wenn er beispielsweise heftig die Juli-Monarchie des Königs Louis- Philippe kritisierte, ging sein Bestreben dahin, die sozialen Missstände zu ändern und der damaligen Gesellschaft ein stark überzeichnetes Bild in einem Spiegel vorzuhalten. Sehr genau beobachtete er die politischen Spannungen zwischen Frankreich und Preußen, die Konflikte in Italien und auf dem Balkan.

In der Ausstellung finden sich auch 17 Zeichnungen, die bezeugen, mit welcher Virtuosität Daumier ein Porträt in eine Karikatur zu verwandeln wusste und dabei auch darauf verwies, wie schnell sich eine zunächst als demokratisch geführte Herrschaft in eine Diktatur verwandeln kann (II. Republik mit Napoleon III).

Honoré Daumier hat auch das Ende dieser Regentschaft erlebt: Eine seine letzten Arbeiten zeigt die Ausrufung der Republik und die „Sterbende Monarchie“. Es ist das Ende einer über 40 Jahre andauernden zeichnerischen Tätigkeit in der Presse.

Bereits 1867 begann seine Augenschwäche ihm zu schaffen zu machen. Nichtsdestotrotz setzte er ein bemerkenswertes Alterswerk fort. Doch sein Abschied von Charivari bedeutete den Beginn seiner Altersarmut. Als seine Freunde ihm 1878 eine Verkaufsausstellung organisierten, war sein Name so gut wie vergessen. Kein einziges Werk wurde verkauft.

Sein Augenlicht wurde zunehmend schwächer, 1879 verstarb er verarmt und fast erblindet. Daumiers Werk ist jedoch außergewöhnlich und bis heute aktuell. (Städel Museum Frankfurt bis 12.5. 2024, Katalog 35,00 Euro)



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