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Die Causa Marc Chagall – eine Ausstellung in der Frankfurter Schirn

Die Causa Marc Chagall – eine Ausstellung in der Frankfurter Schirn

Die Ausstellung in der Frankfurter Schirn über den jüdisch-russischen Maler Marc Chagall folgt auf eine erste, die in den gleichen Räumlichkeiten bereits 1991 stattfand. Da die frühere Ausstellung mit Chagalls Verlassen der UDSSR und der Übersiedlung nach Frankreich (Paris) die Zeit vor seinem endgültigen Exil umfasste, war es nur konsequent, mit dieser zweiten Ausstellung Chagalls Jahre besonders in Frankreich zu beleuchten und sich mit seinem Exiljahren in den USA auseinanderzusetzen, also jener Zeit, die meist nur am Rande rezipiert oder gänzlich unbekannt geblieben ist.

In der Zwischenzeit sind wichtige Publikationen erschienen, etwa von Tzvetan Todorov „Le Triomphe de l’artiste“ (Paris, Flammarion, 2017), wo anhand einiger der inzwischen „freigegebenen Dokumente“ die politische Situation in der Domäne der Kunst zwischen 1917 und 1921 in der UDSSR dargestellt ist und die Umstände, die zu einem ersten Exil Chagalls in Berlin führten, klar analysiert wurden.

Marc Chagall hatte in seiner Geburtsstadt Witebsk, kurz nach der Oktoberrevolution 1917, vom kulturpolitischen Kommissar Lunatscharsky die Erlaubnis bekommen, dort eine Malschule zu gründen. Er lud eine ganze Reihe der ehemaligen künstlerischen Mitstreiter aus Moskau und St. Petersburg nach Witebsk ein, darunter El Lissitzky und Kasimir Malewitsch. Eine Einladung, die sich nach und nach als problematisch erwies, war doch Malewitsch ganz anderer Ansicht, was die moderne Kunst leisten muss und kann.

In dem Katalog aus dem Jahr 1991 wird noch mehr oder minder behauptet, dass, obwohl es Streitigkeiten zwischen Malewitsch und Chagall gab, diese hauptsächlich die schulischen Belange betroffen haben sollen. Währenddessen wurde das Verhältnis beider (alle drei?) Männer als „normal“ bezeichnet. Chagall beklagte sich das ganze Jahr, dass er wegen des Verwaltungsaufwands keine Zeit mehr für seine eigene Malerei hatte. Ihm lag vor allem am Herzen, dass seine Studenten das erforderliche Material wie Leinwände, Farbe sowie andere notwendige Mittel wie etwa Gips für die Bildhauer zur Hand hatten und sich mit verschiedenen Materialien und Techniken bilden konnten. Er verbrachte die meiste Zeit, den Unterricht überhaupt möglich zu machen. Wenn man die zeitgenössischen Dokumente richtig deutet, lag die Hauptlast bei Chagall und nicht bei El Lissitzky oder Malewitsch.

Kasimir Malewitsch verteidigte seinen Suprematismus, im festen Glauben, dass sich die traditionelle figurative Malerei überlebt habe und die neue – allein mit Hilfe geometrischer Form – die Zukunft sei. (Später wird er, beim Besuch im Dessauer Bauhaus, auf Granit beißen, als er „wissenschaftlich zu erklären versucht, dass es außerhalb des Suprematismus keine Malerei geben kann – weder darüber, noch darunter“.) In seinen Augen war Chagall offensichtlich nur ein Phantast, der sich jetzt, während des Winters, zunächst bemühen musste, auch das Holz für die Heizung zu besorgen, damit ihm, wie in Moskau, die Schüler bei dieser entsetzlichen Kälte nicht tot erfroren umfielen.

Malewitsch kam im Oktober 1919 nach Witebsk, Chagall war schon seit Beginn des Jahres 1919 Direktor. Sein Anliegen war es, auch die Öffentlichkeit für seine Schule zu interessieren: er verstärkte also beispielsweise die Malaktivitäten in öffentlichen Gebäuden, auf der Straße, während der staatlich angeordneten Feiertage. Eines vergaß er dabei nicht: Witebsk war eine jüdische Stadt, mit großer jüdischer Tradition, die sich sowohl im Stadtleben wie auch in den kulturellen Aktivitäten widerspiegelte.

Anfang des Jahres 1920, als Chagall von einer längeren Reise nach Witebsk zurückkehrte, erfuhr er, dass Malewitsch seine Schule während seiner Abwesenheit den Namen „Suprematistische Akademie“ übergestülpt hatte und alle seine Schüler ­­­Chagalls in seine eigene Klasse übernommen hatte. Ein Rausschmiss könnte nicht besser inszeniert sein. Binnen kürzester Zeit verließ Chagall daher Witebsk und ging zunächst nach Moskau. Als ihm Malewitsch, El Lissitzky und Kandinsky (offensichtlich nach Rücksprache mit dem Kultusministerium in Moskau) nur ein überaus niedriges Gehalt zubilligten, mit dem man weder leben noch sterben konnte, nahm Chagall auch seine Frau Bella und die kleine Tochter Ida mit. Nach Witebsk kehrte Chagall nie wieder zurück.

Nach einer Etappe in Berlin (1922), reiste er weiter nach Paris. Inzwischen waren seine Bilder auch in Amerika gefragt und in Frankreich wurde Ambroise Vollard auf ihn aufmerksam: Vollard, ein versierter Kunsthändler, ist außerdem erfolgreicher Verleger von Kunstbüchern. Marc Chagall erstellte für ihn an die 30 Gouachen und 100 Radierungen für La Fontaines Fabeln (Les Fables de La Fontaine), später dann 118 Radierungen für die Toten Seelen von Nikolai Gogol und vor allem Illustrationen zur Bibel – dafür machte er zahllose Skizzen, in Vilnius als auch während einer Reise mit seiner Familie nach Palästina.

Inzwischen war Hitler in Deutschland an die Macht gelangt. Chagall erhielt die französische Staatsangehörigkeit, doch als er, im Frühjahr 1941, von der Pariser Polizei verhaftet wurde und erst mit Hilfe des amerikanischen Journalisten Varian Fry [1] das Gefängnis verlassen durfte, suchte er den schnellsten Weg, um nach New York zu entkommen. Er verstand, dass er als Jude in Europa keine Chance hatte.

Es sind vor allem die Jahre 1930 bis 1948 (als Chagall nach Frankreich zurückkehrte), die mit etwa 60 Bildern sein amerikanisches Exil dominieren. Nach wie vor spielten die Kindheit und das Dasein in Witebsk eine entscheidende Rolle. Doch eine neue Komponente kam dazu – Chagall verstand, dass auch die christliche Religion zunächst eine Leidensgeschichte ist: Christus‘ Weg nach Golgatha ist war jetzt jener vieler europäischen Juden. Der Einfall Hitlers in Frankreich bedeutete eine unmittelbare Bedrohung, die sich in vielen seiner Bilder und Zeichnungen aus dieser Periode widerspiegelte. Chagalls Palette wurde zunehmend finster.

Im September 1944 starb zudem – infolge einer Infektion – seine geliebte Frau Bella. Chagall ließ sie – mehr als Schatten eines geliebten Wesens – in unzähligen Varianten durch seine Bilder tummeln. Da sie in New York begraben wurde, konnte er sich knapp vier Jahre nicht entschließen, ob er die USA verlassen sollte oder nicht.

Schließlich hatte er hier zwei brillante und erfolgreiche Kreationen geschaffen: Bühnenbild und Kostüme für das Ballett Aleko, sowie für den Feuervogel nach Strawinsky. Die erste Kreation – nach der Musik von Tschaikowsky – verdankte Chagall dem russischen Emigranten Leonide Massine, der das Stück choreographierte. Tschaikowsky hatte ein Zigeunerthema nach dem großen russischen Dichter Alexander Puschkin gewählt und Massine, der selbst in dem fabelhaften Ensemble der Ballets Russes von Sergei Diaghilev mitgewirkt hatte, setzte die Praktiken dieses unvergleichlichen Choreografen fort, wobei er Chagall in die Entscheidungen über das Ballett und seine Wirkung mit einbezog. Massine entschied, die Premiere zunächst in Mexiko zu zeigen, bevor er sie in New York vorführte. Sehr viele Details fanden sich auch in den Notizen von Bella; so weiß man zum Beispiel, dass Diego Rivera und José Clemente Orozco (um nur zwei der bekanntesten mexikanischen Künstler zu nennen, es waren aber einige mehr) – absolut begeistert waren, genauso wie das Publikum. 19 Mal ist der Vorhang an diesem 8. September 1942 hochgegangen, die Kritik war euphorisch. Der gleiche Erfolg stellte sich dann auch in New York ein. Chagall hatte – neben den Kostümentwürfen – auch vier Hintergrundbilder geschaffen. Die New York Herald Tribune bescheinigte ihm, dass seine Arbeit alles überragte, was man an einer Staffelei überhaupt machen kann: Sie schrieb von einer „Theaterausstellung von gigantischer Malerei“ …

Auch das zweite Ballett – der Feuervogel von Igor Strawinsky, choreographiert vom deutsch-russischen Tänzer Adolph Bolm, war ein großer Erfolg, doch der erste scheint bis heute, was die Wirkung seines Aufenthaltes in den USA angeht, alles zu überstrahlen.

Die Ausstellung schließt mit zwei sehr intimen Bildern, die lange nach dem Tod von Bella folgten: 1945 zerschnitt er das fertige Bild Die Zirkusleute. Der linke Teil ist allein Bella gewidmet und bekommt den Namen „Um sie herum“. Die rechte Hälfte heißt „Die Lichter der Hochzeit“.

Marc Chagall, Die Lichter der Hochzeit, 1945, Öl auf Leinwand, 123 x 120 cm, Kunsthaus Zürich, © Kunsthaus Zürich, Geschenk Nachlass Ernst Göhner, 1973 / VG Bild-Kunst, Bonn 2022, Foto: 2020, ProLitteris, Zurich

Auch wenn augenscheinlich in der linken Hälfte die lebendige Erinnerung an Bella zu dominieren scheint und sie als solche autonom wirken könnte, bilden die beiden Bilder eine Einheit: eine sehr lebendige Erinnerung an Witebsk, ein weißer Schleier der verstorbenen frisch Verheirateten, die am Horizont untergehende Sonne … Alles in diesen beiden Bildern macht unzweideutig klar, dass es Bella nicht mehr gibt und alles, was übrig bleibt, sind Erinnerungen… Man schrieb das Jahr 1945, das Ende des Krieges. Chagall würde weitere drei Jahre brauchen, um sich zu entscheiden, nach Frankreich zurück zu kehren. Eine Retrospektive im Musée d’Art Moderne in Paris mag der äußere Anlass zu dieser Rückkehr sein, andere, große Perspektiven der eigentliche …

Die Schirn zeigt eine extrem facettenreiche Ausstellung des in Europa weniger bekannten Werkes von Chagall. Sie macht anschaulich, mit welchen künstlerischen Mitteln er versucht, auch die Gräuel des Krieges in seine Malerei zu übersetzen. Und es ist gut möglich, dass Marc Chagall einer der politischsten Maler der 1940er Jahre ist, der begriff, was der Holocaust bedeutete. Er sah die Anzeichen der Schoah schon in Witebsk, er verstand sie endgültig im amerikanischen Exil.

In Witebsk denkt man immer noch darüber nach, ob eine Straße Chagalls Name tragen soll.

Marc Chagall, Welt in Aufruhr, Kunsthalle Schirn in Frankfurt/M, Katalog im Hirmer Verlag, 200 S-, 35.- an der Musemskasse,

(Digitorial, Begleitheft, Audioguide), Infos: www.schirn.de, bis 19.2.2023.

Marc Chagall, Um sie herum, 1945, Öl auf Leinwand, 131 x 109,5 cm, Centre Pompidou, Paris, Musée national d’art moderne / Centre de création industrielle, Schenkung des Künstlers, 1953, © VG Bild-Kunst, Bonn 2022, Foto: bpk / CNAC-MNAM / Philippe Migeat

[1] Der amerikanische Journalist Varian Fry (1907-1967) verhalf während des Krieges  – aus Marseille agierend – 2000 bis 4000 Juden und Antinazis zur Flucht in die USA. Er besorgte für sie gefälschte Visa, organisierte ab August 1940 zunächst mit 3000 Dollar in der Tasche die Flucht für etwa 200 gefährdete Schriftsteller und Künstler. Als er sah, welche menschliche Tragödien sich abspielten, erweiterte er seine Aktivitäten im sogenannten Rescue Committee Notfall (ERC). So konnten beispielsweise Claude Levi-Strauss, aber auch Max Ernst, Hannah Arendt, Heinrich Mann, Lion Feuchtwanger, Anna Mahler und Marc Chagall in die USA fliehen.



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