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Das allmähliche Schwinden des Lebensraums oder die Welten vor dem Kollaps – die Ausstellung “Street Life” im Hack-Museum Ludwigshafen

Vorbemerkung:

Der französische Renault 4 „Quatre L“, der zwischen 1961 und 1992 gebaut wurde, war 3,6 Meter lang und 143 cm breit und hatte zwischen 26 und 34 PS (25 kW). Er wog etwas mehr als 600 kg und verbrauchte bei spärlicher Fahrweise etwa 4 Liter Benzin. Manche Familie hat damals – da sich die hinteren Sitze zusammenklappen ließen – sogar ihren Umzug damit bewerkstelligt. Die Höchstgeschwindigkeit lag bei rund 120 Kilometern in der Stunde, eine Geschwindigkeit, die bald auf sämtlichen Autobahnen Deutschlands Realität wird.

Der neue SUV Audi Q8 ist 4,9 m lang und knapp 2 m breit, sein Verbrauch liegt zwischen 11,2l und 11,8l Benzin auf 100 km, seine Motorleistung bei 210 bis 340 KW, Gewicht 2,175 bis 2,5 Tonnen.

Auf einer 1 km langen Strecke finden 277 R4 und 200 Audi Q8 Platz. Da immer mehr SUV gekauft werden, ist die Saturation der Autobahnen und Ausfallstraßen aus den Städten vorprogrammiert – lange Staus, hoher Verbrauch für die Fahrten von meist einer Person sind die Folge.

Dies kann auch nur eine Vorbemerkung dazu sein, dass etwaige frühere „Oasen“ (d.h. Straßen, auf denen es keinen oder kaum Verkehr gab) nicht mehr gibt. Das Street Life findet nicht statt.

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Die Ausstellung Street Life im Wilhelm Hack Museum in Ludwigshafen geht noch von der Annahme aus, dass es gegenwärtig (und zukünftig) immer noch genug öffentlichen Raum geben wird, der es ermöglicht, dass sich Künstler (oder auch Amateure) finden werden, die auf die eine oder andere Art diesen Raum werden gestalten können: obgleich der gegenwärtige Mangel an bewohnbarem Raum eher dagegen spricht – denn der mögliche urbane Raum wird für Wohnungen dringend gebraucht.

Damit würde aber keine große Ära beginnen, in der sich bildende Kunst (vor allem die Zeichnung und die Malerei), die Fotografie, der Film und auch die Performance und Installationen der Straße des freien Raums künstlerisch bemächtigen wergen. Eher im Gegenteil, wir werden zunehmend von der Vergangenheit sprechen. Davon zeugt auch die Ausstellung im Wilhelm Hack Museum.

Es fing zu Beginn des 20. Jahrhundert zunächst damit an, dass Künstler – vor allem in den europäischen Großstädten – die Menschen, die den öffentlichen Raum nach dem Ersten Weltkrieg zu bevölkern begannen, für sich entdeckten: Mit scharfer Feder und feinem Pinsel hatte beispielsweise Georg Grosz die Großstadtmenschen – zunächst in nicht unmittelbar  zugänglichen Interieurs (etwa in Bordellen) – porträtiert, bevor er die Straße als wichtige künstlerische Quelle für sich entdeckte. Schwarzweiß-Collagen mit aus der Zeitung ausgeschnittenen Personen schuf er, bevor er in bissige Porträts (die etwa auch die Versehrten des Krieges zeigten) in seine Gemälde integrierte und auf den Unterschied reich/arm fokussierte.

Spannend ist die Synthese seiner Berliner Bilder in dem 1931 entstandenen Gemälde „Straße in Berlin“ (Musée de Grenoble), wo es auf mehreren übereinander gelegten Ebenen ein Bild des auf der Straße pulsierenden Lebens gibt: Grosz hat hier versucht, eine Art von zahlreichen Piktogrammen der zum gleichen Zeitpunkt verlaufenen Ereignissen auf einer Berliner Straße auf die Leinwand zu bringen (die Analyse von Elisabeth Bonnet im Katalog der Ausstellung erläutert präzise die einzelnen Ebenen, Kat. S. 36-50).

Was dagegen nicht stimmig ist, ist der Versuch, ein Gemälde von Pieter Breughel dem Älteren (Der Triumph des Todes,  Museo del Prado, Madrid), sowie die bahnbrechende Arbeit von Marcel Duchamps, Nu descendant un escalier, Nr.2, aus dem Jahr 1912, (Philadelphia Museum of Art) in eine schlüssige Perspektive der „Street Art“ einzugliedern … der eine, weil er sich in die große Tradition der mittelalterlichen klassischen Thematik des Todes in der Malerei einreiht, der zweite, weil er den in dieser Zeit populären Stummfilm in die Malerei umsetzt (Duchamps Gemälde ist nicht farbig, sondern eigentlich nur schwarz/weiß, was ein Hinweis auf die Entstehungsgschichte sein dürfte) – was gründlich misslingt. Auch die Integration des schönen Gemäldes von Giorgio de Chiricos, Piazza d’Italia Metafisica, um 1950, (aus dem Besitz der Mannheimer Kunsthalle) fremdelt in diesem Kontext etwas – es sagt der Realität ade und hat mit der Malerei von Grosz, Meidner, Beckmann oder Kirchner keinen Berührungspunkt.

Auch im fotografischen Part wird versucht,  unzusammenhängende Konzepte unter einen Hut zu bringen: So hat André Kertész Aufnahme des sich in Reparatur befindlichen Viadukts von  Meudon (1928) samt fahrender Lokomotive mit dem Begriff Street Life wenig zu tun. Kertész hatte sicherlich nicht die Absicht gehabt, eine Straßenszene zu fotografieren (nur weil ein Mann unter dem Arm ein in Zeitungspapier eingewickeltes Bild trägt. Er wollte dokumentieren, dass es sich um ein „PREMIER OUVRAGE D’ART FERROVIAIRE“ (erstes Werk der Eisenbahnkunst) handelt, die, zwischen 1838 und 1840 gebaut, seitdem Paris mit Chartres verbindet. Diese Fotografie in die gleiche Reihe mit Eugène Atgets Aufnahme eines Pariser Geschäfts mit Korsetts und einer Aufnahme von Straßenpflaster von Brassai zu bringen, ist etwas willkürlich. Ein großes Verdienst ist sicher, auf die schönen Aufnahmen von Friedrich Seidenstücker aus Berlin der 1930er hinzuweisen. Nach dem Zweiten Weltkrieg blieb er lange vergessen, erst 1971 entdeckte man seinen Nachlass bei einem Trödler und kaufte ihn für 500 Mark für das Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz. Seidenstücker war 1966 gestorben, ohne je auf seine Wiederentdeckung zu hoffen …

Was ist noch zu sehen? Helen Levitt (in den 1940er Jahren, Martha Cooper (Ende der 1970er und in den 1980er Jahren), Beat Streuli (in den 2020er Jahren –und zwar auch in Ludwigshafen und Mannheim) dokumentieren das Leben – vor allem der Kinder – an verschiedenen Orten dieser Erde – wobei New York auf jeden Fall das  Primat hat.

Die Exkurse in die künstlerische Fotografie folgen einem ziemlich beengten sozialen Part mit der Studentenrevolte 1968 in Paris, einer Straßen Aktion von Joseph Beuys 1974 in Köln oder der Gay-Demo von  Peter Hujar, 1970 in New York. Keine der Reportagen scheint neue Elemente zu bringen, es werden die üblichen Recherchewege verfolgt. Hujars Werk ist natürlich vielschichtiger, als dass es auf ein Foto reduziert werden könnte. Das gleiche gilt für Klaus Staeck.

 Es folgen die Performances von Valie Export mit Peter Weibel (Mappe der Hundigkeit, 1968), nicht zu vergleichen mit David Hammons (Bliz-aard Ball Sale), dessen Bekanntheit erst relativ später einsetzte, weil er die Idee hatte, im Winter auf einem der belebten Boulevards New Yorks Schneebälle zu verkaufen (oder verschenken). Er verdankt den Fotografien seines Freundes Dawoud Bey, dass sein Name nicht in die Vergessenheit geriet. Überhaupt: Die meisten Performances im urbanen Raum wurden durch die Fotografien (später dann durch Videos) und letztendlich durch Social Media bekannt: diese letzte Kategorie wird aber in der Ausstellung ausgeklammert …

Besondere Aufmerksamkeit hätte die Revue Minotaure verdient, die die Pariser Surrealistengruppe zwischen 1933 und 1939 herausgab. In der Nr.9, (1936) sind Fotos des ungarischen Fotografen Guyla Halász (Brassai) erschienen, der schon seit längerer Zeit in Paris lebte. Bei der Exkursion in die Grotte in Vétheuil, wo er 1935 fotografierte, entdeckte er auf den Wänden Zeichnungen, die er „Troglodyten“ nannte. Er kam dadurch auf die Idee, auch in Paris Spuren verschiedener Zeichnungen an Wänden der Hauptstadt ausfindig zu machen, die ein mehr oder minder deutliches Piktogramm ergaben. Brassai, der in den 1930er Jahren eine wirklich erstaunliche Karriere begann, wurde sofort von den Pariser Surrealisten Gruppe akzeptiert und begründete eine bis heute andauernde Faszination für verschiedene Graffitigruppen.

Die Ausstellung im Wilhelm Hack Museum glänzt mit einer großen Breite an künstlerischen Positionen und Dokumentation zu zahlreichen Eingriffen in den urbanen Raum. Neben wichtigen Werken sieht man auch Arbeiten von Künstlern (und Künstlergruppen), die das Mittelmaß nicht überschreiten und vermutlich nur durch Zufall in die Ausstellung gelangten.

Im Katalog wird der englische Street-Art Künstler Banksy – wohl einer der wichtigsten Künstler der letzten Jahre – nicht einmal erwähnt – und auch mit keinem Wort der französische Fotograf und Street-Art Künstler, JR (Jean-René), der ein enormes Renommee weltweit genießt. JR begann mit 17, Graffitis anderer Künstler zunächst in Paris zu fotografieren, zu vergrößern und auf markanten Orten der Stadt an die Wand zu kleben. Seine spätere Serie „Portrait of a Generation“ waren ein großer Erfolg: Die Pariser Banlieue hat zum ersten Mal ein respektvolles Porträt ihrer Bewohner erhalten. Zwei große Street Life Künstler, die von keinem der acht Katalogautoren zur Kenntnis genommen werden.

Ludwigshafen (noch bis 5.3.2023)

Wilhelm Hack Museum

Brassaï (Gyula Halász) Le Roi Soleil, ca. 1945–1950 Aus der Serie Graffiti, 1945–1955 Silbergelatineabzug auf Holz 139,8 × 105 × 2 cm Centre Pompidou, Musée national d’art moderne/Centre de création industrielle, Paris © bpk | CNAC-MNAM | Estate Brassaï

George Grosz, Straßenszene, Kurfürstendamm 1925, Öl auf Leinwand, 81,3 x 61,3 cm, Museo Nacional Thyssen-Bornemisza, Madrid

Helen Levitt
N.Y., ca. 1940
Silbergelatineabzug
32,1 x 22,1 cm
Galerie Thomas Zander, Köln
© Film Documents LLC, courtesy Galerie Thomas Zander, Cologne

VALIE EXPORT / Peter Weibel
Aus der Mappe der Hundigkeit, 1968
Schwarz-Weiß-Fotografie
40,3 × 50,3 cm
Sammlung Generali Foundation – Dauerleihgabe am Museum der Moderne Salzburg
© Generali Foundation, Foto: Josef Tandl ; VALIE EXPORT: © VG Bild-Kunst, Bonn 2022



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