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Das verlassene Haus – Berna Gülerbasli und Sebastian Schaufele erhielten den Willibald-Kramm-Preis 2023

Das verlassene Haus – Berna Gülerbasli und Sebastian Schaufele erhielten den Willibald-Kramm-Preis 2023

Eine Parabel ist ursprünglich ein Fluss in Sibirien (308 km lang), sonst wird das Wort in einer Form von Vergleichung, Nebeneinanderstellung oder Gleichnis/Gleichheit (etwa in der Mathematik) verstanden. Ich werde versuchen, dieses Gleichnis möglichst einfach zu erklären, ohne den üblichen verschachtelten Diskurs, der zu zahlreichen Vernissagen gehört.

Zunächst gibt es zwei Bilder: ein Rauminterieur, das Berna Gülerbasli fotografiert und Sebastian Schaeuffele zeichnerisch ergänzt hat, in dem er zerbrochene Fensterscheiben darstellte. Dann ein zweites Bild – ein verlassenes Haus, irgendwo in der Gegend von Schönau, das zerfällt, Opfer eines juristischen Streits, der schon Jahren andauert.

Meine Parabel beginnt hier: eine deutsche Mutter, eine Ärztin, bringt im Januar 1945 Zwillinge zur Welt. Sie heißen, so ist es überliefert, Hoffmann und sind bei der Großmutter in Prag untergebracht. Aber 4 Monate später ist der Zweite Weltkrieg zu Ende, alle Deutschen müssen die Stadt (und das Land) binnen 3 Monaten verlassen. Irgendwann im Sommer schreibt die Ärztin an ihren Liebhaber aus Holland, dass Hunger herrscht, und die Kinder sollten bei der Großmutter bleiben. Seitdem verlieren sich von ihr alle Spuren. Angeblich meldet sie sich mal als Ärztin aus Südafrika, später aus Indien bei ihrer Schwester in Deutschland. Ihre zwei Cousins, beide Philosophieprofessoren an der Kant Universität im heutigen Kaliningrad, fallen in Russland.

Der Vater wird als unzuverlässiger junger Mann, der mit einer Deutschen ein Liebesverhältnis hatte, in den nördlichen Teil des Sudetenlandes verbannt. Die kleinen Kinder werden zunächst in einer Mietwohnung, die sich über einem Kasperletheater befindet, untergebracht. Wenn es eine Vorstellung gibt, wird es in der Wohnung warm, da es Löcher im Fußboden gibt, da kann die warme Luft hochsteigen. Heizungskohle gibt es für die Familie nicht. Der Vater sucht verzweifelt nach jemandem, der auf die Kinder aufpasst. Im nächsten Sommer wird es unerträglich heiß, vor allem wenn Schulklassen am Jahresende zu den Vorstellungen kommen.

Die Zwillinge dürfen später mit dem Vater in eine kleine Villa umziehen. Ein Deutscher wohnte hier, er ist viel gereist, im seinem Arbeitszimmer finden sich Tausende von Glas-Negativen aus Südostasien. Die Kinder verstehen nichts, sie dürfen aber auch nichts berühren. Eines Tages kommt eine junge Dame, die als die Mama vorgestellt wird. Mit dem Vater verständigt sie sich auf englisch. Die Kinder gehen in die erste Klasse. Von manchen werden sie als die Deutschen bezeichnet. Anderen ist es egal.

Sie lernen bald, was Vandalismus bedeutet. Hinter ihrem Garten ist auch eine Villa, eine verlassene. Bald gehen hier die Fenster kaputt und ein kleiner Lastwagen kommt, um ein Klavier abzuholen. Kurze Zeit später wird die Eingangstür mit der Axt zerschlagen. Penner hausen dort, andere Fenster gehen zu Bruch. Die Kinder dürfen sich nicht in den hinteren Gartenteil begeben, die Holzlatten eines Zaunes brauchen die drüben zum Heizen.

 Irgendwann beginnen auch Umbauarbeiten im eigenen Haus. Der Vater wird als amerikanischer Spion denunziert, denn zu Hause spricht man englisch. Es folgen 3 Jahre Zwangsarbeit in einem Uranbergwerk, die Mutter lernt tschechisch mit viel Erfolg. Sie wird, obgleich estnischer Nationalität, als Fremdling behandelt. Sie beherrscht jetzt 5 Sprachen – neben Englisch, Deutsch, Estnisch und Russisch auch Tschechisch. Sie versucht die Kinder durchzubringen. Einmal findet sie kurz vor den Weihnachten einen Umschlag mit mehreren Tausend tschechischer Kronen in dem Familienpostkasten: Für die tapfere Ausländerin, steht auf dem Umschlag. Sie wird nie erfahren, von wem es war. Zum ersten Mal wird es zu Weihnachten drei Orangen geben.

In dem Haus, wo sie früher allein wohnten, wohnen jetzt 4 Parteien. Nur eine ältere Dame grüßt die junge Mutter, die nach all diesen entbehrungsvollen Jahren lange mit Tuberkulose zu kämpfen haben wird. Der Vater kommt irgendwann aus der Zwangsverbannung zurück, das Paar versteht sich aber nur mäßig. Der Vater mag es nicht, wenn die Kinder Lärm machen. Später findet er eine Stelle in Prag, 130 Kilometer entfernt. Die junge Mutter, die mit 23 die beiden Zwillinge in ihre Obhut bekam, arbeitet 12 Stunden am Tag, denn das Geld des Vaters reicht für kleine zwei Zimmer in Prag und gelegentliche Besuche zu Hause …

Jahre danach wird sich einer der beiden Zwillinge daran erinnern, wie langsam, aber konstant die Villen um ihr Domizil verschwanden. Es begann mit zerborstenen Fenstern, wie sie Sebastian Schäuffele zeichnet, und ging weiter mit dem zerschlagenen Interieur, wie es Berna Gülerbäsli fotografierte.

Es ist mir also eine besondere Freude, mich von den beiden Künstler zu dieser Parabel inspirieren zu lassen – und mich mit der Verleihung des Willibald – Kramm Preises 2024 für die gelungene Symbiose der Zeichenkunst mit der Fotografie zu bedanken. Mein herzlicher Dank geht an Dr. Manfred Fuchs, den Stifter dieses Preises.

B. Gullerbasli, S, Schäuffele  ABYS



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